

Stardirigent Kent Nagano ist überzeugt: „Musik ist für das Funktionieren einer Gesellschaft essentiell.“ Foto: © Felix Broede
Herr Nagano, Sie leiten das Vorsprung-Festival, sind Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, musikalischer Leiter des Orchestre symphonique de Montréal und künstlerischer Berater bei den Göteborger Symphonikern. Woher nehmen Sie die Energie für all diese Projekte?
Zusammen zu musizieren ist der intensivste und ehrlichste soziale Augenblick, den es gibt. Wir finden es heute wichtig, sozial zu sein, zum Beispiel durch Facebook. Aber das ist virtuell. Echte soziale Realität geschieht, wenn wir Musik machen. Das kann nur im Hier und Jetzt passieren. Der Dialog, der dabei entsteht, ist unheimlich kreativ und persönlich. Kommunikation durch klassische Musik ist hundert Mal schneller, stärker, effizienter und gibt hundert Mal mehr Energie als Kommunikation durch Facebook. Das ist der Grund, warum klassische Musik immer leben wird. Und das gibt mir Energie.
Wenn Sie auf drei Jahre Vorsprung-Festival zurückblicken: Was war das Besondere an dieser Zusammenarbeit?
Fasziniert hat mich besonders die Zusammenarbeit mit der Jugendchorakademie. Diese Initiative hat natürlich eine Öffentlichkeitswirkung, Audi betreibt das Projekt aber vor allem, weil es richtig ist, das zu tun. Um einen Teil des Unternehmenserfolgs an die Gesellschaft zurückgeben. Als Amerikaner sehe ich so etwas nicht jeden Tag. Die jungen Musiker der Jugendchorakademie teilen die Idee, dass man Perfektion nur durch Disziplin erreicht und Musik immer Kompromiss ist.
Um mit jemandem, der 20 Meter entfernt ist, präzise die richtigen Töne singen zu können, muss man eine Bindung zum Dirigenten haben. Diese sozialen Kompromisse, Respekt für Disziplin, Sensibilität für höchste Perfektion als wichtigste Werte anzusehen, ist normal für uns als Künstler. Beeindruckend ist, dass auch Audi diese Werte als Führungseigenschaften in unserer Gesellschaft sieht, sie unterstützt und fördert. Wenn die Sänger die Jugendchorakademie verlassen, nehmen sie diese Werte mit und bringen sie in die Gesellschaft ein. Damit ist die Jugendchorakademie eine Investition in die nächste Generation. So weit in die Zukunft zu denken, ist auch Vorsprung durch Technik.

Drei Jahre hat Kent Nagano mit Audi zsuammengearbeitet. Ihr Gemeinsamkeit: Das stete Streben nach Vorsprung. Foto: © Felix Broede
Was sind Ihre persönlichen Highlights aus dieser Zeit?
Oh, es gibt so viele Highlights! Stockhausens „Helikopter-Quartett“ letztes Jahr war ein Highlight (lacht). Die vier Streicher im Helikopter spielen zu lassen und den Klang der Hubschrauber-Rotoren zu integrieren, war wirklich ungewöhnlich.
Aber eigentlich ist jedes Projekt des Vorsprung-Festivals ein Highlight. In diesem Jahr ist das Thema „Im Wandel der Zeiten“. Wir alle erleben diesen Wandel. Wir wollen in unserem Leben so viel kontrollieren, aber das ist nicht so einfach. Wir kommen immer wieder in Phasen, in denen wir nicht wissen, wie es weitergeht und was wir tun sollen. Aber gerade diese Phasen bringen manchmal die tiefste Entwicklung, den weitesten Vorsprung, weil wir viel über unsere eigene Persönlichkeit lernen.
In unserem ersten Konzert in diesem Jahr ging es deshalb um Natur und Wandel. Mit Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ und der Auftragskomposition „Die vier Temperamente“. Dafür haben vier junge Komponisten kurze Stücke extra für den Audi Jugendchor geschrieben. Zum ersten Mal in den drei Jahren haben wir damit Uraufführungen kreiert. An so einer Geburt teilzuhaben ist sehr selten und unvergesslich.
Warum ist es eigentlich wichtig, dass wir alle uns mit klassischer Musik beschäftigen?
Klassische Musik ist für das Funktionieren einer Gesellschaft essentiell. Ich sage oft, dass ein Konzertbesuch wie die Basis von Demokratie ist. Wenn vier Leute nebeneinander im Konzertsaal sitzen, haben sie ganz unterschiedliche Hintergründe, Berufe, Bildungsniveaus, haben verschiedene Erfahrung mit Musik gemacht. Aber sie alle haben eine Reaktion auf das, was sie hören. Diese Reaktion ist echt. Und jede ist gleich viel wert. Keiner kann sagen „meine Erfahrung ist besser als deine“. In ihrer Erfahrung sind sie absolut gleich und frei.

Die Energie geht diesem Mann nicht so schnell aus: Er ist Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, Musikalischer Leiter des Orchestre symphonique de Montréal und künstlerischer Berater bei den Göteborger Symphonikern.
Was ist für Sie die beste Autofahr-Musik?
Ehrlich gesagt genieße ich im Auto gern die seltenen Momente der Ruhe. Wir leben in einer Welt, in der wir mit Lärm bombardiert werden. Wenn ich nicht gerade selbst Musik mache oder im Publikum sitze, liebe ich es, absolute Ruhe zu haben. Das gibt einem die Freiheit, einfach nachzudenken, sich etwas vorzustellen, etwas in Gedanken zu erschaffen.
Ein wichtiges Zukunftsthema, das alle Lebensbereiche erfasst, ist die Digitalisierung. Vor wenigen Monaten hat die künstliche Intelligenz AlphaGo den weltbesten Go-Spieler geschlagen. Könnten Sie sich vorstellen, eines Tages ein Roboter-Orchester zu dirigieren?
In Japan habe ich schon einen Roboter-Dirigenten gesehen. Keine Frage, dass das kommen wird. Aber ich bin überzeugt, dass das künstlerische Niveau von Robotern niemals interessant wird. Kunst ist ein zutiefst menschlicher Ausdruck. Wenn man kein Mensch ist, kann man diesen Ausdruck nicht haben. Rhythmus und Töne allein sind keine Musik. Musik ist das, was zwischen, hinter, über oder unter den Tönen liegt.
Wir haben normalerweise nur zwölf Töne. Aber wie diese Töne gespielt werden, mit welchen Farben, in Dunkelblau oder heißem Rot, in vollem Licht oder im Schatten, mit welcher Höhe oder Tiefe, alle diese Sachen sind eine Art von vollkommener Unvollkommenheit. Das wird eine Maschine nie verstehen. Sie unterscheidet nur zwischen eins und null. Aber im echten Leben ist es nicht nur eins und null. Es ist viel mehr.

Wenn Kent Nagano nicht auf der Bühne steht, genießt er gerne die Ruhe – so auch beim Autofahren.
Das klingt, als sehen Sie Musik in Farben.
Natürlich. Ich bin kein Synästhetiker, der beim Hören von Musik tatsächlich Farben sieht. Aber ich fühle Farben. Wenn ich D-Dur am Klavier spiele, fühle ich andere Farben als bei cis-Moll. Ich denke, jede Person fühlt Farben, wenn sie Musik ganz bewusst hört.
Am 24. Juli geben Sie mit „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms und „Das Lesen der Schrift“ von Wolfgang Rihm Ihr Abschiedskonzert als Leiter des Vorsprung-Festivals. Rihm schrieb dieses Stück extra für Sie. Wie kam es dazu?
Ich kenne Rihm seit Jahrzehnten und bewundere ihn sehr. Deshalb habe ich ihn gebeten, ein Stück zu schreiben, das man zusammen mit Brahms’ Requiem spielen kann, um damit zwei Herausforderungen zu lösen, die dieses Werk an uns stellt.
Zum einen wird das Stück regelmäßig zur Osterzeit gespielt, weshalb ich die Gefahr sah, dass es zur Routine wird. Routine ist für uns Künstler Anti-Kreativität. Deshalb war es wichtig zurückzutreten, um aus der Distanz einen neuen, tieferen Zugang zum Stück zu finden.
Zweitens ist Brahms eine enorme Herausforderung für den Chor. Die Sänger müssen nacheinander sieben körperlich sehr anspruchsvolle Stücke singen. Wie also soll man die Energie und Frische des Chors bewahren, damit das volle Potenzial jedes Satzes ausgeschöpft werden kann?

Kommunikation durch klassische Musik ist für Nagano hundert Mal schneller, stärker, effizienter als Kommunikation durch Facebook. Foto: © Felix Broede
Wie hat Rihm diese Herausforderungen gemeistert?
Rihm komponierte „Das Lesen der Schrift“, mit dem wir vier Einschiebungen zwischen verschiedenen Sätzen des Requiems spielen. Diese Intermezzi sind reflexiv. Sie nehmen die Tonalität des vorherigen Satzes auf und bereiten die des nächsten vor. Faszinierend ist, was dazwischen passiert. Da hört man Geister und Schatten, Verweise auf die Wörter, die gerade gesungen wurden. Jedes Intermezzo provoziert einen meditativen Moment für das Publikum und die Künstler. Und dann plötzlich kommt der nächste Satz, ganz frisch, denn man hat wirklich die Zeit gehabt, über die Bedeutung des Gehörten nachzudenken. So kann Brahms uns wieder überraschen.
Inzwischen werden die Werke oft zusammen gespielt und ich freue mich über diesen Erfolg. Rihm lebt noch, er ist aktuell. Brahms ist Tradition. Beides zusammen zu bringen ist ein ganz anderer Blick auf die Idee Vorsprung durch Technik.
Der Beitrag „Musik ist hundert Mal stärker als Facebook“ erschien zuerst auf Audi Blog.